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Jürgen Hinzpeter - Der nach Südkorea geht. Für die Demokratie.

 
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HUMAN MINDED_ Jürgen Hinzpeter

Erzählerin: Solveig Jeschke

Jürgen Hinzpeter: Stefan Naas

Chun Doo-whan: Sokrates Evangelidis

Pfarrer Paul Schneiss: Uwe Thoma

Henning Rumohr: Jan Kröger

Kim Sa Bok: Benjamin Stolz

Student: Andre Denz

Alter Mann: Frank Hofmann

----------------------------------------------------------------

Freitag, 26. Oktober 1979. Südkoreas Präsident Park Chung-hee wird erschossen. Von seinem eigenen Geheimdienstchef. So brutal das Attentat auf den Diktator auch ist, die Menschen in Südkorea atmen auf. Sie hoffen auf die Demokratisierung des Landes. Nur zwei Monate später putscht sich Armeechef Chun Doo-whan an die Macht. Das Land bleibt unter Militärherrschaft. Das Volk ist enttäuscht. Es regt sich Widerstand. Im Mai 1980 gehen in Seoul fast einhunderttausend Protestierende auf die Straße. Die Regierung reagiert wütend und entschlossen. Sie löst die Nationalversammlung auf und verschärft das Kriegsrecht. Sie verbietet politische Aktivitäten, schließt Universitäten und verhaftet zahlreiche Oppositionelle. Unter ihnen Kim Dae-jung, führender Oppositionspolitiker und im Südwesten des Landes beheimatet, im Großraum der Millionenstadt Gwangju. Und genau dort spitzt sich die Lage zu. Am Sonntag, dem 18. Mai um 10 Uhr morgens versammeln sich 600 Studenten im Stadtzentrum von Gwangju und fordern die Aufhebung des Ausnahmezustands, zudem die Freilassung von Kim Dae-jung. Doch der regierende Generalmajor Chun Doo-whan denkt gar nicht daran.

Chun Doo-whan: „Er ist schuldig. Er hat versucht, mit Gewalt die Macht zu ergreifen. Kim Dae-jung wird sich vor Gericht verantworten müssen.“

In Gwangju solidarisieren sich immer mehr Menschen mit den Studenten. Soldaten greifen ein. Mit Schlagstöcken und Tränengas. Die Demonstranten wehren sich. Werfen Steine und Molotowcocktails. Das Gwangju-Massaker nimmt seinen Lauf.

Tags drauf. 19. Mai 1980. Im ARD-Studio Tokio klingelt ein Telefon. Am anderen Ende der Leitung ist Pfarrer Paul Schneiss. Ökumenischer Mitarbeiter im Kyodan, der Vereinigten Kirche Christi in Japan.

Schneiss: „Ich rufe an, da wir uns große Sorgen machen. Meine Frau ist zurzeit in Seoul und sie hat Panzer gesehen. Jede Menge Panzer. Es heißt, das Militär soll die Studentenproteste in Gwangju mit harter Hand niederschlagen.“

Im ARD-Studio Tokio arbeitet Jürgen Hinzpeter als Korrespondent. Er hat direkte Kontakte nach Südkorea und nutzt sie, um sich über die instabile Lage zu informieren. Die Presse ist ihm dabei keine Hilfe. Die südkoreanische Regierung hat sie vollständig unter Kontrolle. Jürgen Hinzpeter fasst einen Entschluss. Noch am selben Tag will er sich aufmachen nach Südkorea. Er will Augenzeuge sein und Berichterstatter. Begleiten soll ihn dabei sein Kollege aus der Technik, Henning Rumohr.

Hinzpeter: „Henning. Wie viel Bargeld hast Du dabei?“

Rumohr: „Weiß ich nicht. Ich habe noch welches in meinem Schreibtisch.“

Hinzpeter: „Wir brauchen Bargeld. Viel. Vielleicht müssen wir uns für länger irgendwie durchschlagen.“

Zur selben Zeit in Gwangju. Studenten haben einen großen Demonstrationszug organisiert. Bus- und Taxifahrer bilden einen langen Konvoi, der mit einem lauten Hupkonzert durchs Zentrum zieht. Die Menschen entzünden eine riesige Fackel. Symbolisch soll sie Licht in die Dunkelheit der Diktatur bringen. Wieder setzen Soldaten Schlagstöcke und Tränengas ein. Und wieder werfen Demonstranten mit Steinen und Molotowcocktails.

Am Nachmittag erreichen Jürgen Hinzpeter und Henning Rumohr den Flughafen Gimpo, im Westen Seouls. Dort holt sie Kim Sa Bok ab. Ein Fahrer, den Hinzpeter vor der Abreise aus Japan bestellt hat.

Kim Sa Bok: „Guten Tag, Herr Hinzpeter. Hatten Sie einen guten Flug?“

Hinzpeter: „Jaja, danke. Das ist Herr Rumohr, mein Kollege aus dem Studio Tokio.“

Kim Sa Bok: „Angenehm. Ich bin Kim Sa Bok. Und ich werde versuchen, Sie überall dort hinzubringen, wohin Sie möchten.“

Hinzpeter: „Ja. Gut. Für Gwangju ist es heute schon zu spät. Wir werden uns morgen früh aufmachen. Fahren Sie uns bitte ins Chosun Hotel.“

Dienstag, 20. Mai. Seit den frühen Morgenstunden lenkt Kim Sa Bok seinen schwarzen Hyundai in Richtung Süden. An der Auffahrt zur Schnellstraße nach Gwangju steht ein großes Hinweisschild: gesperrt. Doch Kim Sa Bok fährt unbeirrt weiter. Neben ihm sitzt Jürgen Hinzpeter. Angespannt und seine Kamera griffbereit. Die Straße ist völlig verlassen. Nach einer Stunde ist ein großes Schild zu sehen. Weißes Piktogramm auf blauem Grund. Umleitung.

Hinzpeter: „Da müssen wir wohl runter. Oder?“

Kim Sa Bok: „Nein. Da geht noch ein Stück. Nehmen wir die Schilder einfach als freundliche Empfehlung – für alle die, die heute nicht in Gwangju ankommen wollen.“

Zur selben Zeit versammeln sich mehrere Tausend Menschen im Zentrum Gwangjus. Sie stürmen die Barrikaden der Polizei. Für Jürgen Hinzpeter sind es keine 30 Minuten Autofahrt mehr bis in die Stadt. Doch schwerbewaffnete Soldaten stoppen den Wagen. Direkt vor einem Tunnel. Kim Sa Bok muss die Schnellstraße verlassen. Die Soldaten leiten ihn durch hohe Reisfelder in ein nahegelegenes Dorf. Hier steigt Kim Sa Bok aus und unterhält sich mit einigen Bauern.

Kim Sa Bok: „So. Weiter gehts.“

Hinzpeter: „Was haben sie gesagt? Gibt es überhaupt noch einen Weg nach Gwangju – oder ist alles blockiert?“

Kim Sa Bok: „Wird schwierig. Die Bauern haben mir ein paar Schleichwege genannt. Mal sehen, ob wir durchkommen.“

Wenige Kilometer vor Gwangju. Die nächste Straßensperre. Die nächste Kontrolle. Jürgen Hinzpeter kommt auf eine Idee. Er erzählt den Soldaten, dass sie in die Stadt fahren müssten, um ihren Chef zu finden. Er sei in großer Gefahr.

Hinzpeter: „Nein. Wir fahren nicht nach Gwangju, um zu filmen. Nein. Das ist allein ein humanitärer Einsatz, kein journalistischer. Wir bringen unseren Chef da raus, und dann sind wir auch schon wieder verschwunden.“

Mit dieser Geschichte ist es für Hinzpeter und seine Mitstreiter plötzlich sehr leicht, die Posten des Militärs zu passieren. Langsam nähern sie sich dem Stadtgebiet Gwangjus. An ihrem Wagen haben sie eine Stockflagge angebracht: German Television in schwarz-rot-gold als Hinweis, dass dieses Auto kein Militärfahrzeug ist. Kurz darauf begegnet ihnen ein Stadtbus. Geschmückt mit der südkoreanischen Nationalflagge. Dahinter ein Militärlastwagen – gekapert von Studenten. Junge Männer mit Stirnbändern sitzen im Bus und auf der Ladefläche des Lastwagens. Sie trommeln und singen laut. Und sie laden Hinzpeter und Rumohr ein, zu ihnen rüberzukommen. Die beiden klettern auf die Ladefläche des Lastwagens und beginnen zu filmen, während es stadteinwärts geht. Kurz darauf findet sich Hinzpeter auf einem Marktplatz inmitten aufgebrachter Menschen wieder. So viele, die dem deutschen Journalisten von den brutalen Übergriffen der Soldaten erzählen. Sie bringen Hinzpeter in den Hinterhof eines Krankenhauses. Dort öffnen sie Särge, die in langen Reihen aufgestellt sind. Sie zeigen auf die zahlreichen Kopfwunden der Toten. Mit zitternder Stimme nennen sie die Namen der Totgeprügelten, die Namen ihrer Brüder, ihrer Freunde und Mitstreiter.

Hinzpeter: „Mein Gott. Darf ich filmen? Ja? Filmen. With my camera. Is it okay? Sowas habe ich noch nie gesehen. Nicht mal im Vietnamkrieg.“

Am späten Nachmittag sind mehr als einhunderttausend Menschen auf der Straße. Sie ziehen zum Gebäude der Provinzregierung und belagern es. In der Nacht zünden Demonstranten Autos an und bewegen sich auf die Soldaten zu, um sie zurückzudrängen. Die Armee eröffnet das Feuer. Doch der Protestzug weicht nicht zurück. Demonstranten plündern die Waffenkammern der Polizei und der Armee. Schwer bewaffnet besetzen sie den Rundfunksender der Stadt.

Am Vormittag des 21. Mai versucht Jürgen Hinzpeter, Kontakt mit seinem Büro in Tokio aufzunehmen. Aber die Telefonleitungen sind gekappt, und Hinzpeter hat kein Satellitentelefon.

Hinzpeter: „Henning. Es nützt nichts. Ich denke, wir sollten schon heute zurück nach Tokio. Wir drehen jetzt noch an zwei, drei Orten und dann nichts wie retour. Die Aufnahmen müssen so schnell wie möglich veröffentlicht werden.“

Rumohr: „In Ordnung. Lass uns zum Regierungsgebäude fahren. Dort soll es eine Art Kommandozentrale der Studenten geben.“

Hinzpeter filmt im Innenhof des Regierungsgebäudes. Lastwagen bringen immer wieder Leichen. Studenten werden mit Waffen ausgestattet. Vor dem Gebäude sitzen zahlreiche Menschen. Sie meditieren. Sie feiern Buddhas Geburtstag. Vor der ausgebrannten Fernsehstation der Stadt interviewt Hinzpeter Amnesty International Aktivisten. Am Nachmittag bereitet er die Rückfahrt zum Flughafen Gimpo vor. Er legt die belichteten Filmrollen zurück in die Originalschachteln, damit sie ungebraucht aussehen. Die wichtigsten Rollen versteckt er unter seinem T-Shirt.

Hinzpeter, Rumohr und Kim Sa Bok machen sich auf in Richtung Flughafen. Wieder werden sie von Soldaten kontrolliert. Doch sie fliegen nicht auf.

Zur selben Zeit liefern sich in Gwangju zweihunderttausend Demonstranten und das Militär einen unbarmherzigen Kampf, in dem viele ihr Leben lassen.

Hinzpeter: „Nun, ist es doch später geworden, als ich dachte. Den Flug nach Tokio bekommen wir nicht mehr. Also noch mal ins Hotel.“

Kim Sa Bok: „In Ordnung. Ich fahre Sie dann gleich morgen früh zum Flughafen.“

Donnerstagmorgen, 22. Mai. Flughafen Gimpo. Jürgen Hinzpeter bucht First Class nach Tokio. Das Risiko, dass sein Handgepäck ausgiebig inspiziert wird, ist so wesentlich geringer. Seine Filmrollen liegen zwischen Keksen in einer Dose, die Hinzpeter mit goldfarbener Folie und grünen Bändern verpackt hat – wie ein Hochzeitsgeschenk. So gelingt es ihm, die Filmaufnahmen ins ARD-Studio Tokio zu bringen. Noch am selben Tag sendet die Tagesschau die weltweit ersten Bilder vom Aufstand in Gwangju.

Wenige Stunden nach ihrer Ankunft in Tokio fliegen Hinzpeter und Rumohr zurück nach Seoul, um sich am Freitagmorgen gemeinsam mit ihrem Fahrer Kim Sa Bok abermals nach Gwangju zu begeben. Ihr Weg dorthin wird durch einen Konvoi des Roten Kreuzes begünstigt. Sie schließen sich dem Hilfstransport an. Später gelingt es Hinzpeter, patrouillierende Soldaten davon zu überzeugen, dass er als Ausländer trotz Kriegsrechts frei reisen dürfe. Sie lassen ihn durch.

Kim Sa Bok: „Kompliment, Herr Hinzpeter. Fragt sich nur, warum man auch mich weiterfahren lässt. Ich bin doch kein Ausländer.“

Hinzpeter: „Ich glaube, die waren mit meinem Englisch irgendwie überfordert. Die wollten einfach nur ihre Ruhe haben.“

Sie erreichen das Regierungsgebäude. Zwanzigtausend Menschen sind zu einer Kundgebung zusammengekommen. Niemand, der sie in diesem Moment bedroht. Die Soldaten haben sich aus dem Zentrum zurückgezogen. Die Studenten bilden ein Bürgerkomitee. Dieses Komitee verhandelt am Samstagmittag, 24. Mai mit dem Militär. Dafür nutzt man die einzig funktionierende Telefonleitung Gwangjus im Regierungsgebäude. Hinzpeter hört den Verhandlungen zu. Ein alter Mann mit Schärpe spricht in den Telefonhörer.

Alter Mann: „Solange wir uns gegenseitig beschießen, werden wir keine Möglichkeit haben zusammenzukommen, um unseren Konflikt zu lösen. Wir haben die geplünderten Waffen inzwischen wieder eingesammelt.“

Student: „Hey. Gib mal her. Gib mir mal den Hörer. Hallo? Hören Sie: Halten Sie Ihre Truppen zurück. Unternehmen Sie nichts, bis wir uns wieder bei Ihnen melden. Und wenn Sie noch Fragen haben, dann melden Sie sich, rufen Sie hier an, ja? Bitte.“

Am selben Nachmittag ruft das Komitee die Befreiung Gwangjus aus. Militärtruppen verstärken die Blockade um das Stadtzentrum.

Montag, 26. Mai 1980. Erneut verhandelt das Komitee mit Militäroffizieren. Noch immer zeichnet sich keine friedliche Lösung ab.

Hinzpeter: „Es ist dramatisch. Sieht so aus, als bliebe euch Menschen von Gwangju nur ein möglicher Weg zur Befreiung. Nur der des Blutvergießens.“

Zwanzigtausend Soldaten, Fallschirmjäger und Panzer stürmen in der Nacht zum 27. Mai das Stadtzentrum Gwangjus. Ein Blutbad mit Tausenden Toten beendet das Aufbegehren des Volkes. Es kommt zum angekündigten Prozess gegen den Oppositionellen Kim Dae-jung. Das Militärgericht in Seoul verurteilt ihn als angeblichen Rädelsführer zum Tode. Nur auf internationalen Druck begnadigt ihn die Regierung später. Denn Hinzpeters Aufnahmen belegen die Unschuld Kim Dae-jungs. Weder am Aufruf noch an der Organisation des Aufstandes ist er aktiv beteiligt gewesen. Seine Freilassung gibt Südkoreas Demokratiebewegung enormen Auftrieb, was schließlich 1987 zu freien Präsidentschaftswahlen führt. Elf Jahre später, 1998, wird Kim Dae-jung selbst Präsident Südkoreas.

Im Januar 2016 stirbt Jürgen Hinzpeter im Alter von 79 Jahren.

Jürgen Hinzpeter, dem sie in Gwangju ein Denkmal gebaut haben.

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Erzählerin: Solveig Jeschke

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Chun Doo-whan: Sokrates Evangelidis

Pfarrer Paul Schneiss: Uwe Thoma

Henning Rumohr: Jan Kröger

Kim Sa Bok: Benjamin Stolz

Student: Andre Denz

Alter Mann: Frank Hofmann

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Freitag, 26. Oktober 1979. Südkoreas Präsident Park Chung-hee wird erschossen. Von seinem eigenen Geheimdienstchef. So brutal das Attentat auf den Diktator auch ist, die Menschen in Südkorea atmen auf. Sie hoffen auf die Demokratisierung des Landes. Nur zwei Monate später putscht sich Armeechef Chun Doo-whan an die Macht. Das Land bleibt unter Militärherrschaft. Das Volk ist enttäuscht. Es regt sich Widerstand. Im Mai 1980 gehen in Seoul fast einhunderttausend Protestierende auf die Straße. Die Regierung reagiert wütend und entschlossen. Sie löst die Nationalversammlung auf und verschärft das Kriegsrecht. Sie verbietet politische Aktivitäten, schließt Universitäten und verhaftet zahlreiche Oppositionelle. Unter ihnen Kim Dae-jung, führender Oppositionspolitiker und im Südwesten des Landes beheimatet, im Großraum der Millionenstadt Gwangju. Und genau dort spitzt sich die Lage zu. Am Sonntag, dem 18. Mai um 10 Uhr morgens versammeln sich 600 Studenten im Stadtzentrum von Gwangju und fordern die Aufhebung des Ausnahmezustands, zudem die Freilassung von Kim Dae-jung. Doch der regierende Generalmajor Chun Doo-whan denkt gar nicht daran.

Chun Doo-whan: „Er ist schuldig. Er hat versucht, mit Gewalt die Macht zu ergreifen. Kim Dae-jung wird sich vor Gericht verantworten müssen.“

In Gwangju solidarisieren sich immer mehr Menschen mit den Studenten. Soldaten greifen ein. Mit Schlagstöcken und Tränengas. Die Demonstranten wehren sich. Werfen Steine und Molotowcocktails. Das Gwangju-Massaker nimmt seinen Lauf.

Tags drauf. 19. Mai 1980. Im ARD-Studio Tokio klingelt ein Telefon. Am anderen Ende der Leitung ist Pfarrer Paul Schneiss. Ökumenischer Mitarbeiter im Kyodan, der Vereinigten Kirche Christi in Japan.

Schneiss: „Ich rufe an, da wir uns große Sorgen machen. Meine Frau ist zurzeit in Seoul und sie hat Panzer gesehen. Jede Menge Panzer. Es heißt, das Militär soll die Studentenproteste in Gwangju mit harter Hand niederschlagen.“

Im ARD-Studio Tokio arbeitet Jürgen Hinzpeter als Korrespondent. Er hat direkte Kontakte nach Südkorea und nutzt sie, um sich über die instabile Lage zu informieren. Die Presse ist ihm dabei keine Hilfe. Die südkoreanische Regierung hat sie vollständig unter Kontrolle. Jürgen Hinzpeter fasst einen Entschluss. Noch am selben Tag will er sich aufmachen nach Südkorea. Er will Augenzeuge sein und Berichterstatter. Begleiten soll ihn dabei sein Kollege aus der Technik, Henning Rumohr.

Hinzpeter: „Henning. Wie viel Bargeld hast Du dabei?“

Rumohr: „Weiß ich nicht. Ich habe noch welches in meinem Schreibtisch.“

Hinzpeter: „Wir brauchen Bargeld. Viel. Vielleicht müssen wir uns für länger irgendwie durchschlagen.“

Zur selben Zeit in Gwangju. Studenten haben einen großen Demonstrationszug organisiert. Bus- und Taxifahrer bilden einen langen Konvoi, der mit einem lauten Hupkonzert durchs Zentrum zieht. Die Menschen entzünden eine riesige Fackel. Symbolisch soll sie Licht in die Dunkelheit der Diktatur bringen. Wieder setzen Soldaten Schlagstöcke und Tränengas ein. Und wieder werfen Demonstranten mit Steinen und Molotowcocktails.

Am Nachmittag erreichen Jürgen Hinzpeter und Henning Rumohr den Flughafen Gimpo, im Westen Seouls. Dort holt sie Kim Sa Bok ab. Ein Fahrer, den Hinzpeter vor der Abreise aus Japan bestellt hat.

Kim Sa Bok: „Guten Tag, Herr Hinzpeter. Hatten Sie einen guten Flug?“

Hinzpeter: „Jaja, danke. Das ist Herr Rumohr, mein Kollege aus dem Studio Tokio.“

Kim Sa Bok: „Angenehm. Ich bin Kim Sa Bok. Und ich werde versuchen, Sie überall dort hinzubringen, wohin Sie möchten.“

Hinzpeter: „Ja. Gut. Für Gwangju ist es heute schon zu spät. Wir werden uns morgen früh aufmachen. Fahren Sie uns bitte ins Chosun Hotel.“

Dienstag, 20. Mai. Seit den frühen Morgenstunden lenkt Kim Sa Bok seinen schwarzen Hyundai in Richtung Süden. An der Auffahrt zur Schnellstraße nach Gwangju steht ein großes Hinweisschild: gesperrt. Doch Kim Sa Bok fährt unbeirrt weiter. Neben ihm sitzt Jürgen Hinzpeter. Angespannt und seine Kamera griffbereit. Die Straße ist völlig verlassen. Nach einer Stunde ist ein großes Schild zu sehen. Weißes Piktogramm auf blauem Grund. Umleitung.

Hinzpeter: „Da müssen wir wohl runter. Oder?“

Kim Sa Bok: „Nein. Da geht noch ein Stück. Nehmen wir die Schilder einfach als freundliche Empfehlung – für alle die, die heute nicht in Gwangju ankommen wollen.“

Zur selben Zeit versammeln sich mehrere Tausend Menschen im Zentrum Gwangjus. Sie stürmen die Barrikaden der Polizei. Für Jürgen Hinzpeter sind es keine 30 Minuten Autofahrt mehr bis in die Stadt. Doch schwerbewaffnete Soldaten stoppen den Wagen. Direkt vor einem Tunnel. Kim Sa Bok muss die Schnellstraße verlassen. Die Soldaten leiten ihn durch hohe Reisfelder in ein nahegelegenes Dorf. Hier steigt Kim Sa Bok aus und unterhält sich mit einigen Bauern.

Kim Sa Bok: „So. Weiter gehts.“

Hinzpeter: „Was haben sie gesagt? Gibt es überhaupt noch einen Weg nach Gwangju – oder ist alles blockiert?“

Kim Sa Bok: „Wird schwierig. Die Bauern haben mir ein paar Schleichwege genannt. Mal sehen, ob wir durchkommen.“

Wenige Kilometer vor Gwangju. Die nächste Straßensperre. Die nächste Kontrolle. Jürgen Hinzpeter kommt auf eine Idee. Er erzählt den Soldaten, dass sie in die Stadt fahren müssten, um ihren Chef zu finden. Er sei in großer Gefahr.

Hinzpeter: „Nein. Wir fahren nicht nach Gwangju, um zu filmen. Nein. Das ist allein ein humanitärer Einsatz, kein journalistischer. Wir bringen unseren Chef da raus, und dann sind wir auch schon wieder verschwunden.“

Mit dieser Geschichte ist es für Hinzpeter und seine Mitstreiter plötzlich sehr leicht, die Posten des Militärs zu passieren. Langsam nähern sie sich dem Stadtgebiet Gwangjus. An ihrem Wagen haben sie eine Stockflagge angebracht: German Television in schwarz-rot-gold als Hinweis, dass dieses Auto kein Militärfahrzeug ist. Kurz darauf begegnet ihnen ein Stadtbus. Geschmückt mit der südkoreanischen Nationalflagge. Dahinter ein Militärlastwagen – gekapert von Studenten. Junge Männer mit Stirnbändern sitzen im Bus und auf der Ladefläche des Lastwagens. Sie trommeln und singen laut. Und sie laden Hinzpeter und Rumohr ein, zu ihnen rüberzukommen. Die beiden klettern auf die Ladefläche des Lastwagens und beginnen zu filmen, während es stadteinwärts geht. Kurz darauf findet sich Hinzpeter auf einem Marktplatz inmitten aufgebrachter Menschen wieder. So viele, die dem deutschen Journalisten von den brutalen Übergriffen der Soldaten erzählen. Sie bringen Hinzpeter in den Hinterhof eines Krankenhauses. Dort öffnen sie Särge, die in langen Reihen aufgestellt sind. Sie zeigen auf die zahlreichen Kopfwunden der Toten. Mit zitternder Stimme nennen sie die Namen der Totgeprügelten, die Namen ihrer Brüder, ihrer Freunde und Mitstreiter.

Hinzpeter: „Mein Gott. Darf ich filmen? Ja? Filmen. With my camera. Is it okay? Sowas habe ich noch nie gesehen. Nicht mal im Vietnamkrieg.“

Am späten Nachmittag sind mehr als einhunderttausend Menschen auf der Straße. Sie ziehen zum Gebäude der Provinzregierung und belagern es. In der Nacht zünden Demonstranten Autos an und bewegen sich auf die Soldaten zu, um sie zurückzudrängen. Die Armee eröffnet das Feuer. Doch der Protestzug weicht nicht zurück. Demonstranten plündern die Waffenkammern der Polizei und der Armee. Schwer bewaffnet besetzen sie den Rundfunksender der Stadt.

Am Vormittag des 21. Mai versucht Jürgen Hinzpeter, Kontakt mit seinem Büro in Tokio aufzunehmen. Aber die Telefonleitungen sind gekappt, und Hinzpeter hat kein Satellitentelefon.

Hinzpeter: „Henning. Es nützt nichts. Ich denke, wir sollten schon heute zurück nach Tokio. Wir drehen jetzt noch an zwei, drei Orten und dann nichts wie retour. Die Aufnahmen müssen so schnell wie möglich veröffentlicht werden.“

Rumohr: „In Ordnung. Lass uns zum Regierungsgebäude fahren. Dort soll es eine Art Kommandozentrale der Studenten geben.“

Hinzpeter filmt im Innenhof des Regierungsgebäudes. Lastwagen bringen immer wieder Leichen. Studenten werden mit Waffen ausgestattet. Vor dem Gebäude sitzen zahlreiche Menschen. Sie meditieren. Sie feiern Buddhas Geburtstag. Vor der ausgebrannten Fernsehstation der Stadt interviewt Hinzpeter Amnesty International Aktivisten. Am Nachmittag bereitet er die Rückfahrt zum Flughafen Gimpo vor. Er legt die belichteten Filmrollen zurück in die Originalschachteln, damit sie ungebraucht aussehen. Die wichtigsten Rollen versteckt er unter seinem T-Shirt.

Hinzpeter, Rumohr und Kim Sa Bok machen sich auf in Richtung Flughafen. Wieder werden sie von Soldaten kontrolliert. Doch sie fliegen nicht auf.

Zur selben Zeit liefern sich in Gwangju zweihunderttausend Demonstranten und das Militär einen unbarmherzigen Kampf, in dem viele ihr Leben lassen.

Hinzpeter: „Nun, ist es doch später geworden, als ich dachte. Den Flug nach Tokio bekommen wir nicht mehr. Also noch mal ins Hotel.“

Kim Sa Bok: „In Ordnung. Ich fahre Sie dann gleich morgen früh zum Flughafen.“

Donnerstagmorgen, 22. Mai. Flughafen Gimpo. Jürgen Hinzpeter bucht First Class nach Tokio. Das Risiko, dass sein Handgepäck ausgiebig inspiziert wird, ist so wesentlich geringer. Seine Filmrollen liegen zwischen Keksen in einer Dose, die Hinzpeter mit goldfarbener Folie und grünen Bändern verpackt hat – wie ein Hochzeitsgeschenk. So gelingt es ihm, die Filmaufnahmen ins ARD-Studio Tokio zu bringen. Noch am selben Tag sendet die Tagesschau die weltweit ersten Bilder vom Aufstand in Gwangju.

Wenige Stunden nach ihrer Ankunft in Tokio fliegen Hinzpeter und Rumohr zurück nach Seoul, um sich am Freitagmorgen gemeinsam mit ihrem Fahrer Kim Sa Bok abermals nach Gwangju zu begeben. Ihr Weg dorthin wird durch einen Konvoi des Roten Kreuzes begünstigt. Sie schließen sich dem Hilfstransport an. Später gelingt es Hinzpeter, patrouillierende Soldaten davon zu überzeugen, dass er als Ausländer trotz Kriegsrechts frei reisen dürfe. Sie lassen ihn durch.

Kim Sa Bok: „Kompliment, Herr Hinzpeter. Fragt sich nur, warum man auch mich weiterfahren lässt. Ich bin doch kein Ausländer.“

Hinzpeter: „Ich glaube, die waren mit meinem Englisch irgendwie überfordert. Die wollten einfach nur ihre Ruhe haben.“

Sie erreichen das Regierungsgebäude. Zwanzigtausend Menschen sind zu einer Kundgebung zusammengekommen. Niemand, der sie in diesem Moment bedroht. Die Soldaten haben sich aus dem Zentrum zurückgezogen. Die Studenten bilden ein Bürgerkomitee. Dieses Komitee verhandelt am Samstagmittag, 24. Mai mit dem Militär. Dafür nutzt man die einzig funktionierende Telefonleitung Gwangjus im Regierungsgebäude. Hinzpeter hört den Verhandlungen zu. Ein alter Mann mit Schärpe spricht in den Telefonhörer.

Alter Mann: „Solange wir uns gegenseitig beschießen, werden wir keine Möglichkeit haben zusammenzukommen, um unseren Konflikt zu lösen. Wir haben die geplünderten Waffen inzwischen wieder eingesammelt.“

Student: „Hey. Gib mal her. Gib mir mal den Hörer. Hallo? Hören Sie: Halten Sie Ihre Truppen zurück. Unternehmen Sie nichts, bis wir uns wieder bei Ihnen melden. Und wenn Sie noch Fragen haben, dann melden Sie sich, rufen Sie hier an, ja? Bitte.“

Am selben Nachmittag ruft das Komitee die Befreiung Gwangjus aus. Militärtruppen verstärken die Blockade um das Stadtzentrum.

Montag, 26. Mai 1980. Erneut verhandelt das Komitee mit Militäroffizieren. Noch immer zeichnet sich keine friedliche Lösung ab.

Hinzpeter: „Es ist dramatisch. Sieht so aus, als bliebe euch Menschen von Gwangju nur ein möglicher Weg zur Befreiung. Nur der des Blutvergießens.“

Zwanzigtausend Soldaten, Fallschirmjäger und Panzer stürmen in der Nacht zum 27. Mai das Stadtzentrum Gwangjus. Ein Blutbad mit Tausenden Toten beendet das Aufbegehren des Volkes. Es kommt zum angekündigten Prozess gegen den Oppositionellen Kim Dae-jung. Das Militärgericht in Seoul verurteilt ihn als angeblichen Rädelsführer zum Tode. Nur auf internationalen Druck begnadigt ihn die Regierung später. Denn Hinzpeters Aufnahmen belegen die Unschuld Kim Dae-jungs. Weder am Aufruf noch an der Organisation des Aufstandes ist er aktiv beteiligt gewesen. Seine Freilassung gibt Südkoreas Demokratiebewegung enormen Auftrieb, was schließlich 1987 zu freien Präsidentschaftswahlen führt. Elf Jahre später, 1998, wird Kim Dae-jung selbst Präsident Südkoreas.

Im Januar 2016 stirbt Jürgen Hinzpeter im Alter von 79 Jahren.

Jürgen Hinzpeter, dem sie in Gwangju ein Denkmal gebaut haben.

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