Anspruch und Wirklichkeit Mt 21,28-32
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Ich sitze im Zug nach Köln und habe 23 Minuten Verspätung. Der BetDenkzettel, den ich gerade schreibe, hätte schon gestern fertig sein sollen. Auf eine für vorgestern versprochene Antwort warte ich noch heute.
Anspruch und Wirklichkeit fallen auseinander. Dauernd. Das ist einerseits ärgerlich, andererseits ist das normal.
Normal ist es, weil Anspruch und Wirklichkeit zwei verschiedene Sachverhalte sind. Die Wirklichkeit ist das, was ist. Der Anspruch ist das, was sein soll. Die Wirklichkeit ist, dass ich um 6 Uhr schlafe. Der Anspruch ist, dass ich um 6 Uhr aufstehe.
Ärgerlich ist das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit, wenn beide nicht zueinander finden und es um wichtige Dinge geht.
Noch ärgerlicher ist, wenn Menschen beginnen, sich daran zu gewöhnen, dass Anspruch und Wirklichkeit unverbunden nebeneinander stehen.
So geht es mir gerade mit der Bahn. Manchmal auch in der Kirche oder mit manchen Menschen. Und leider manchmal auch mit mir selbst.
Ganz schlimm wird’s, wenn dieses Auseinanderfallen den Enttäuschten dann irgendwann wurscht ist. Der unverwirklichte Anspruch ist dann nur noch Gerede. Und die unangesprochene Wirklichkeit gilt als unverbesserlich oder nicht mehr zu retten.
Dahin soll es bei mir nicht kommen, wenn es um meine Nächsten geht. Oder um die Kirche. – Oder sogar um die Bahn.
Wenn Anspruch und Wirklichkeit sich partout nicht finden und nicht übereinkommen, dann stimmt entweder etwas mit dem Anspruch oder mit der Wirklichkeit nicht.
Jesus erzählt von zwei Söhnen, die der Vater zum Arbeiten in seinen Weinberg schickt. Der eine sagt nein und geht doch. Der andere sagt ja und geht nicht.
„Wer hat den Willen seines Vaters erfüllt?“, fragt Jesus. „Der Erste“, lautet die richtige Antwort seiner Zuhörer. Da dachten sie vielleicht noch, Jesus wolle mit ihnen ein akademisches Gespräch über das rechte Tun führen.
Doch dann werden sie mit dem ungeheuerlichsten Vergleich konfrontiert: „Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.“ Nicht, weil „Zöllner und Dirnen“ in Wirklichkeit die besseren, authentischeren oder normaleren Menschen wären. Wir dürfen uns da ruhig den schlimmsten Vergleich mit Leuten vorstellen, mit denen wir ungern in einem Atemzug genannt werden würden…
Die „Zöllner und Dirnen“ sind die, deren Lebenswirklichkeit soweit vom Anspruch Gottes, also vom Anspruch des Guten, der Wahrheit und der Liebe entfernt ist, dass die „normalen Leute“ sich gegraust abwenden. Damals wie heute.
Sie, sagt Jesus, haben der Stimme Johannes‘ des Täufers, der Stimme der Gerechtigkeit und der Umkehr geglaubt. – Ihr aber nicht. Und selbst als sie geglaubt und sich bekehrt haben und Ihr das gesehen habt, habt Ihr nicht geglaubt.
Ihr habt Euch unerreichbar gemacht. Ihr habt Euch eingerichtet. Ihr merkt gar nicht mehr, dass Ihr nur noch so tut, als ob.
Die „Zöllner und Dirnen“, die sich vom Anspruch Gottes haben erreichen lassen, stellen mich vor die Frage, ob das bei mir so ist: Ob ich ja sage, aber nicht tue, was ich bejahe. Oder ob ich nein sage und es mich reuen sollte.
Wie wäre das, wenn der Anspruch des Guten und die Wirklichkeit eins wären? Es gibt einen Menschen, bei dem das der Fall ist. Jesus ist das Wort und der Anspruch Gottes in Person. Jesus ist, was er sagt. Und er sagt, was er ist.
Ihm kann ich glauben, dass sein Anspruch keine Überforderung, keine Verfremdung und keine Verengung meines Lebens bedeutet. Sondern ein Wachsen ins Eigentliche und in eine immer größere Freiheit.
Und an ihm liebe ich, dass er das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit erträgt – bis dahin, dass er ausgespannt zwischen Himmel und Erde stirbt und noch im Sterben liebt.
Und mit ihm will ich die unerlöste Welt aushalten und lieben, weil seine Liebe die einzige Macht ist, die die Welt und uns Menschen erlösen und heil machen kann.
Und dann ist die Deutsche Bahn mein kleinstes Problem.
Fra' Georg Lengerke
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