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Ein Hauch von 1984 – Telepolis löscht das eigene Archiv

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Als Telepolis 1996 das Licht der Welt erblickte, gab es den Ausdruck „alternative Medien“ noch nicht einmal. Wie auch die NachDenkSeiten gehörte das zum Heise Verlag gehörende Onlinemagazin zu den Pionieren eines publizistischen, politischen Mediums, in dem auch Fakten und Meinungen zu Wort kamen, die sich nicht in den Mainstream einreihen ließen. Dieses kulturelle Erbe ist nun Geschichte. Im Rahmen einer „Qualitätsoffensive“ – allein dieser Begriff könnte auch George Orwells 1984 entliehen sein – hat Telepolis nun alle Artikel, die vor 2021 erscheinen sind, vom Netz genommen – das sind über 50.000 Beiträge. 2021 übernahm der neue Chefredakteur Harald Neuber, der auch für die Löschaktion verantwortlich zeichnet, das Ruder. Auch ich habe früher für Telepolis gearbeitet und empfinde das Vorgehen als Schande. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dass ich heute überhaupt als Journalist arbeiten kann, ist auch zwei Personen zu verdanken: Florian Rötzer und Thomas Pany, damals Chefredakteur bzw. Redakteur des Onlinemagazins Telepolis. Als ich 2006 in meinem alten Job in der Unternehmenskommunikation entnervt den Bettel hinschmiss und mich als freier Journalist betätigte, war dies vor allem aus finanzieller Hinsicht eine Kamikaze-Aktion, da es für Quereinsteiger nicht eben einfach ist, seine Texte an den Mann zu bringen. Ohne Telepolis – und später den Freitag – wäre meine „Karriere“ in der schreibenden Zunft wohl bereits lange beendet, bevor ich 2011 erst als freier Mitarbeiter und später als Redakteur zu den NachDenkSeiten stieß. Dafür bin ich Telepolis und meinen beiden damaligen „Betreuern“ für immer dankbar.

Über die fünf Jahre hinweg, die ich als freier Autor für Telepolis tätig war, steuerte ich über 100 Artikel bei. Darunter waren zahlreiche Hintergrundartikel zur Finanzkrise 2007/2008, eine ausführliche Serie zur Pleite der HypoRealEstate, eine Serie zur damals beginnenden Eurokrise, aber auch ausführlich recherchierte Reportagen wie die über den Whistleblower Rudolf Elmer, der mit seinen „Steuerhinterzieherdaten“ damals die Republik erschütterte und selbst ins Visier der Schweizer Banken geriet. Auch wenn Eigenlob bekanntlich stinkt, muss ich doch sagen, dass ich durchaus stolz auf diese „Frühwerke“ bin.

Das sieht der derzeitige Chefredakteur von Telepolis offenbar anders. Wenn man diese Artikel heute auf der Seite von Telepolis aufrufen will, erhält man nur den Hinweis, dass „dieser Text nicht weiter zur Verfügung gestellt [wird]“, da er nicht dem „redaktionellen Leitbild“ entspricht, dem sich Telepolis im Jahr 2022 verschrieben hat. Und das betrifft nicht nur die Artikel aus meiner Feder, sondern ausnahmslos alle(!) Artikel, die vor dem Jahr 2021 erschienen sind – also auch die Artikel der damaligen Redaktion und kulturhistorisch wertvolle Stücke wie die des berühmten polnischen Science-Fiction-Schriftstellers Stanislaw Lem, von dem seit 1997 zahlreiche Essays auf Telepolis erschienen sind, von denen gerade einmal zwei 2021 postum erschienene Texte die große Säuberung überlebt haben. Auch dass ein Chefredakteur sämtliche Artikel seines Vorgängers löscht, ist in der Mediengeschichte wohl ein einmaliger Vorgang. Eine derartige Zerstörung kulturellen Erbes kennt man sonst nur von den Taliban.

Die Erklärung des TP-Chefredakteurs Neuber ist dabei an zahlreichen Stellen unfreiwillig komisch. Da heißt es beispielsweise, man könne in den älteren Beiträgen „mögliche Urheberrechtsverletzungen nicht ausschließen“, da „der Umgang mit urheberrechtlich geschütztem Material in der Frühzeit des Internets lockerer war“ und nun Abmahnungen drohen. Ja, das ist richtig. Dieses Problem kennen auch die NachDenkSeiten – nur, dass wir nie auf die Idee kämen, deshalb das komplette Archiv zu löschen. Wir haben in aufwändiger Arbeit ältere Mediendateien, die möglicherweise urheberrechtlich problematisch sind, händisch aussortiert, die Artikel, in denen diese Bilder vorkamen, sind aber selbstverständlich noch online. Ferner schreibt Neuber, dass ein Grund für das „Offline nehmen“ der Artikel der Umstand gewesen sei, dass die „Bilder [in den älteren Artikeln] nie barrierefrei und damit nicht für alle Leser zugänglich“ wären, was als Erklärung für die Löschung unfreiwillig komisch klingt.

Neuber kündigt auch an, dass „viele Archivperlen“ neu erscheinen werden, und führt dabei aus: „Wir werden die alten Inhalte systematisch und so schnell wie möglich sichten und – soweit sie noch einen Mehrwert bieten – nach unseren Qualitätskriterien bewerten und überarbeiten.“ Artikel, die damals von Redaktion und Chefredaktion bereits bewertet und ggf. auch überarbeitet wurden, sollen nun also vom neuen Chefredakteur noch einmal bewertet und überarbeitet werden? Wo verläuft die Grenze zwischen Geschichten umschreiben und Geschichte umschreiben?

So sehr man die Löschung des kompletten Archivs auch kritisieren muss – vollkommen überraschend kam dies nicht. Seit dem Abschied des Telepolis-Mitgründers und langjährigen Chefredakteurs Florian Rötzer hat das Magazin deutlich an Biss verloren. War Telepolis früher ein kritischer Dorn im Fleisch der Mächtigen und – wie die NachDenkSeiten – ein Korrektiv zum Mainstream, bemüht man sich seitdem sichtlich um „Ausgewogenheit“, man hat seine Kanten abgeschliffen und bezeichnet das nach außen als Orientierung an journalistischen Standards.

Sicher, nicht alle historischen Artikel werden diesen Standards entsprochen haben – aber auch das ist Kulturgeschichte. Telepolis wurde als medienpolitisches Experiment ins Leben gerufen. Wer wissen will, wie sich die deutsche Netzkultur in den frühen Jahren des Onlinejournalismus entwickelt hat, für den war Telepolis die wohl beste Primärquelle. Es sind nicht nur die „guten“, journalistisch hochwertigen Texte – die nun auch alle gelöscht wurden -, sondern auch die aus heutiger Perspektive vielleicht ein wenig schrägen Artikel, die kulturell wertvoll sind. Es käme ja auch niemand auf die Idee, die frühen, sicher nicht perfekten Werke von Malern, Schriftstellern oder Komponisten zu vernichten, weil sie späteren Qualitätsstandards nicht entsprechen.

Über die Hintergründe der Löschaktion und der Anpassung der redaktionellen Ausrichtung an den Mainstream kann man nur spekulieren. Die Entwicklung, die Telepolis genommen hat, ist jammerschade und stellt für die alternativen Medien in Deutschland zweifelsohne eine Zäsur dar. Seien Sie sich aber sicher, dass die NachDenkSeiten diesen Weg nicht gehen werden.

Titelbild: Screenshot Telepolis

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Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dass ich heute überhaupt als Journalist arbeiten kann, ist auch zwei Personen zu verdanken: Florian Rötzer und Thomas Pany, damals Chefredakteur bzw. Redakteur des Onlinemagazins Telepolis. Als ich 2006 in meinem alten Job in der Unternehmenskommunikation entnervt den Bettel hinschmiss und mich als freier Journalist betätigte, war dies vor allem aus finanzieller Hinsicht eine Kamikaze-Aktion, da es für Quereinsteiger nicht eben einfach ist, seine Texte an den Mann zu bringen. Ohne Telepolis – und später den Freitag – wäre meine „Karriere“ in der schreibenden Zunft wohl bereits lange beendet, bevor ich 2011 erst als freier Mitarbeiter und später als Redakteur zu den NachDenkSeiten stieß. Dafür bin ich Telepolis und meinen beiden damaligen „Betreuern“ für immer dankbar.

Über die fünf Jahre hinweg, die ich als freier Autor für Telepolis tätig war, steuerte ich über 100 Artikel bei. Darunter waren zahlreiche Hintergrundartikel zur Finanzkrise 2007/2008, eine ausführliche Serie zur Pleite der HypoRealEstate, eine Serie zur damals beginnenden Eurokrise, aber auch ausführlich recherchierte Reportagen wie die über den Whistleblower Rudolf Elmer, der mit seinen „Steuerhinterzieherdaten“ damals die Republik erschütterte und selbst ins Visier der Schweizer Banken geriet. Auch wenn Eigenlob bekanntlich stinkt, muss ich doch sagen, dass ich durchaus stolz auf diese „Frühwerke“ bin.

Das sieht der derzeitige Chefredakteur von Telepolis offenbar anders. Wenn man diese Artikel heute auf der Seite von Telepolis aufrufen will, erhält man nur den Hinweis, dass „dieser Text nicht weiter zur Verfügung gestellt [wird]“, da er nicht dem „redaktionellen Leitbild“ entspricht, dem sich Telepolis im Jahr 2022 verschrieben hat. Und das betrifft nicht nur die Artikel aus meiner Feder, sondern ausnahmslos alle(!) Artikel, die vor dem Jahr 2021 erschienen sind – also auch die Artikel der damaligen Redaktion und kulturhistorisch wertvolle Stücke wie die des berühmten polnischen Science-Fiction-Schriftstellers Stanislaw Lem, von dem seit 1997 zahlreiche Essays auf Telepolis erschienen sind, von denen gerade einmal zwei 2021 postum erschienene Texte die große Säuberung überlebt haben. Auch dass ein Chefredakteur sämtliche Artikel seines Vorgängers löscht, ist in der Mediengeschichte wohl ein einmaliger Vorgang. Eine derartige Zerstörung kulturellen Erbes kennt man sonst nur von den Taliban.

Die Erklärung des TP-Chefredakteurs Neuber ist dabei an zahlreichen Stellen unfreiwillig komisch. Da heißt es beispielsweise, man könne in den älteren Beiträgen „mögliche Urheberrechtsverletzungen nicht ausschließen“, da „der Umgang mit urheberrechtlich geschütztem Material in der Frühzeit des Internets lockerer war“ und nun Abmahnungen drohen. Ja, das ist richtig. Dieses Problem kennen auch die NachDenkSeiten – nur, dass wir nie auf die Idee kämen, deshalb das komplette Archiv zu löschen. Wir haben in aufwändiger Arbeit ältere Mediendateien, die möglicherweise urheberrechtlich problematisch sind, händisch aussortiert, die Artikel, in denen diese Bilder vorkamen, sind aber selbstverständlich noch online. Ferner schreibt Neuber, dass ein Grund für das „Offline nehmen“ der Artikel der Umstand gewesen sei, dass die „Bilder [in den älteren Artikeln] nie barrierefrei und damit nicht für alle Leser zugänglich“ wären, was als Erklärung für die Löschung unfreiwillig komisch klingt.

Neuber kündigt auch an, dass „viele Archivperlen“ neu erscheinen werden, und führt dabei aus: „Wir werden die alten Inhalte systematisch und so schnell wie möglich sichten und – soweit sie noch einen Mehrwert bieten – nach unseren Qualitätskriterien bewerten und überarbeiten.“ Artikel, die damals von Redaktion und Chefredaktion bereits bewertet und ggf. auch überarbeitet wurden, sollen nun also vom neuen Chefredakteur noch einmal bewertet und überarbeitet werden? Wo verläuft die Grenze zwischen Geschichten umschreiben und Geschichte umschreiben?

So sehr man die Löschung des kompletten Archivs auch kritisieren muss – vollkommen überraschend kam dies nicht. Seit dem Abschied des Telepolis-Mitgründers und langjährigen Chefredakteurs Florian Rötzer hat das Magazin deutlich an Biss verloren. War Telepolis früher ein kritischer Dorn im Fleisch der Mächtigen und – wie die NachDenkSeiten – ein Korrektiv zum Mainstream, bemüht man sich seitdem sichtlich um „Ausgewogenheit“, man hat seine Kanten abgeschliffen und bezeichnet das nach außen als Orientierung an journalistischen Standards.

Sicher, nicht alle historischen Artikel werden diesen Standards entsprochen haben – aber auch das ist Kulturgeschichte. Telepolis wurde als medienpolitisches Experiment ins Leben gerufen. Wer wissen will, wie sich die deutsche Netzkultur in den frühen Jahren des Onlinejournalismus entwickelt hat, für den war Telepolis die wohl beste Primärquelle. Es sind nicht nur die „guten“, journalistisch hochwertigen Texte – die nun auch alle gelöscht wurden -, sondern auch die aus heutiger Perspektive vielleicht ein wenig schrägen Artikel, die kulturell wertvoll sind. Es käme ja auch niemand auf die Idee, die frühen, sicher nicht perfekten Werke von Malern, Schriftstellern oder Komponisten zu vernichten, weil sie späteren Qualitätsstandards nicht entsprechen.

Über die Hintergründe der Löschaktion und der Anpassung der redaktionellen Ausrichtung an den Mainstream kann man nur spekulieren. Die Entwicklung, die Telepolis genommen hat, ist jammerschade und stellt für die alternativen Medien in Deutschland zweifelsohne eine Zäsur dar. Seien Sie sich aber sicher, dass die NachDenkSeiten diesen Weg nicht gehen werden.

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